Die Abschaffung des Asylrechts 1993 – ein Rückblick Tag X »Die Brandstifter sitzen in Bonn«
Mitte 1992 machte die autonome L.U.P.U.S.-Gruppe den Vorschlag, am Tag der Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl den Bundestag in Bonn zu blockieren.
Seit wann mischen sich autonome, außerparlamentarische Gruppen in Verfassungsfragen ein? Wollen nun ›Verfassungsfeinde‹ die Verfassung verteidigen? Nährt man nicht Rechtsstaatsillusionen, wenn man zur Verteidigung von Grund- und Schutzrechten aufruft? Warum überließ man nicht Verfassungspatrioten, der liberalen, kritischen Öffentlichkeit, die Verteidigung elementarer Schutzrechte gegenüber dem Staat? Im Prinzip waren mit diesem Aufruf alle Fragen gestellt, die bis heute auf eine kollektive Antwort warten.
Vorgeschichte
Rückblickend lässt sich leicht sagen, dass die Wiedervereinigung eine Zäsur in der Geschichte des Nachkriegsdeutschlands darstellte, die auch die außerparlamentarische, autonome Linke völlig unvorbereitet traf und in den folgenden Jahren durcheinanderschüttelte und gänzlich überforderte.
Diejenigen, die sich vor 1989 mit der DDR beschäftigt hatten, waren an einer Hand abzuzählen. Den meisten lag Nicaragua oder El Salvador schlichtweg näher. Kein Wunder also, dass die Implosion der DDR, der Zusammenbruch des Ostblockes, das, was die Wiedervereinigung an Rassismus und Nationalismus freizusetzen drohte, kaum diskutiert wurde. Im Großen und Ganzen herrschte ein scheinbar souveränes Desinteresse: »Die Grenzen verlaufen nicht zwischen Nationen, sondern zwischen oben und unten«
1991 unternahmen wir den Versuch, außerparlamentarische, militante Politik in diese neu-entstehenden Macht-Konstellationen einzuordnen und verfassten ›Die Doitschstunde – Die Mauer ist gefallen – wir mauern weiter‹[1]. Die Zustandsbeschreibung war alles andere als optimistisch:
Und wie reagieren wir als Autonome?
Erst einmal so, als ob uns das Ganze nichts anginge. Hartnäckig und geradezu bockig hielten wir über Monate durch. Erst in den letzten Monaten, als eh alles zu spät war, kann man mit viel Mühe zwei Positionen in groben Zügen ausmachen: Die erste ist augenscheinlich recht analytisch. Seit Jahren scheren wir uns nicht um Grenzverläufe und Nationenhickhack. Unser Selbstverständnis und Handeln bestimmt sich nicht entlang nationaler Grenzen, sondern an unserem militanten Internationalismus. Wenn die Mauer zusammenbricht, die Ostblockgrenzen sich auflösen, die Weltkarte neu geschrieben wird, dann mag das ein Problem der Herrschenden sein. Unsere Bezugspunkte sind die Aufstände, die riots … weltweit … und damit basta. Die herrschende Realität wird das verdammt nochmal zur Kenntnis nehmen und sich nach uns richten. War die erste Antwort Kosmopolitik und Kopf pur, zeigte die zweite Antwort dafür umso mehr Bauch: »Halt’s Maul, Deutschland. Es reicht« (Aufruf zu den Aktionstagen für den Wiederzusammenbruch vom 30.9. – 3.10.1990 in Berlin). Wenn es uns schon nicht mehr gelingt, die Ohren zuzuhalten, dann sollen die wenigstens ihr Maul halten – als hätten wir was zu sagen …
»Halt’s Maul Deutschland. Es reicht.« In Berlin reichte es für eine Demonstration mit ca. 15.000 Menschen, in Frankfurt für eine Spontandemonstration von ca. 50 – 100 Menschen. Das reicht vorne und hinten nicht.
Es hat sich wohl weitgehend herumgesprochen. Die Linke im Allgemeinen und die Autonomen im Besonderen stecken in einer Krise. Die Ereignisse 1989/90, der Mauerdurchbruch, die politische Ausschaltung der TrägerInnen der DDR-Opposition, der als Staatsvertrag getarnte Kaufvertrag über die Ex-DDR usw. sind nicht der eigentliche Grund für unsere Krise. In ihnen drückt sich vielmehr in aller Konsequenz unsere radikale Abwesenheit aus. Wir waren zu keiner Zeit ein zu beachtender Stolperstein auf dem Weg zur »Wiedervereinigung«. Es ist nicht die Niederlage, die uns so ohnmächtig macht, sondern die Bedeutungslosigkeit, die uns mit den deutsch-deutschen Ereignissen vor Augen geführt wurde. Gab es in den letzten 20 Jahren zu allen Fragen von oben einen Widerstand von unten, der öffentlich beachtet, reformistisch aufgegriffen und repressiv verfolgt werden musste, so waren die wenigen Proteste und Widerstände 1989/90 kaum noch eine Randnotiz wert. Damit sind Relationen und Gewichts-Verhältnisse offensichtlich geworden, die in den Kämpfen an Bauzäunen, Mauern und Projekten allzu oft untergingen.
Am augenscheinlichsten sind mit den Ereignissen 1989/90 jahrzehntelang, weitgehend unumstrittene Welt-Bilder und -Ordnungen zusammengebrochen. Was für die Reformierten (von Grünen bis hin zu den kommunistischen Ex-Partei-Soldaten) als letzter Akt der Befreiung gefeiert wird und in selbstläuternden Gelöbnissen zum »geeinten« Deutschland seinen Höhepunkt fand, ist für viele Linke ein Grund mehr, an diesen Welt- und Ordnungsbildern festzuhalten. Aus Angst, tatsächliche Risse, Brüche und Veränderungen könnten alles in Frage stellen, werden allzu oft mit ideologischer Füllmasse begründete Unsicherheiten und Zweifel glatt gestrichen. Was für die reformierte Linke in ideologisch-enthemmte Machtpolitik mündet, endet – vorläufig – unter uns in Sprachlosigkeit oder unsäglichen Flugblättern.«
Vom ›passiven‹ zum ›rassistischen Konsens‹
Die Konfrontationen in den 80er Jahren waren im Wesentlichen durch recht klare Konstellationen geprägt: Auf der einen Seite die sozialen Bewegungen, die AKWs, die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen, die Startbahn West usw. verhindern wollten. Auf der anderen Seite der Staat, mit einem zunehmend massiveren Gewaltapparat, der all dies durchsetzen wollte. In den meisten Fällen sympathisierte die (lokale) Bevölkerung mit unseren Anliegen, mit unserem Widerstand. Die schweigende Mehrheit blieb zuhause bzw. stellte sich uns nicht in den Weg, was mit dem ›passiven Konsens‹ recht gut umschrieben ist. Ob in Wackersdorf, an der Startbahn oder in Brokdorf: Man konnte den Eindruck haben, dass wir für eine Mehrheit agierten, dass das, was nummerisch als Minderheit in Erscheinung trat, in gesellschaftlichem Sinne eine Mehrheit hinter sich wusste – so etwas wie eine ›kulturelle Hegemonie‹, was die Straße, den öffentlichen Raum, den Diskurs, die Zuspitzungen, die klammheimliche Freude anbelangte.
Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mannheim-Schönau[2]… Pogrome der Straße unter der Schirmherrschaft einer großen Koalition
Diese Zuversicht, dieses Trugbild zerbrach mit den Ereignissen 1991ff auf dramatische, erschütternde Weise. Es war die Zeit des Entsetzens und die Zeit einer kaum aushaltbaren Ohnmacht. Kaum ein Tag verging ohne eine Zeitungsmeldung, ohne einen Fernsehbericht, in dem von neuen rassistischen Angriffen berichtet worden war. Dass organisierte Neonazis solche Angriffe machen, kannten wir – auch wenn dies recht selten vorkam. Dass Hunderte, Tausende von ›aufgebrachten‹ BürgerInnen ein Flüchtlingsheim belagern, dass die Straße in jenen Jahren dem ›rassistischen Mob‹ gehörte, schockierte uns alle und erinnerte zurecht an den ›Volkssturm‹ der 30er Jahre. Selbstverständlich agierten diese Massen nicht ›führungslos‹: Die Anfang der 90er Jahre von CDU bis SPD entfachte ›Asylflut‹-kampagne markierte und lokalisierte die Opfer, während sie gleichzeitig die potenziellen Täter/innen argumentativ ausrüstete (»Das Boot ist voll«, »Überfremdung«). Diese handelten de facto im Auftrag des Staates, der sich so lange ›Handlungsunfähigkeit‹ bescheinigte, bis das Grundrecht auf Asyl abgeschafft war. Über Monate und Jahre agierte das Duo ›Politik‹ und ›aufgebrachtes Volk‹ in mörderischem Einklang: Ein weiterer rassistischer Anschlag wird gemeldet. Je nach blutigem Erfolg wird er zunächst, also heuchlerisch bedauert, um im selben Atemzug wirkliches Verständnis für die »berechtigten Sorgen und Ängste der deutschen MitbürgerInnen« zu bekunden. Dem folgte die Aufforderung fast aller Parteien, schleunigst das Grundrecht auf Asyl abzuschaffen, mit dem unausgesprochenen Versprechen, den Terror der Straße in ein geregeltes und geordnetes Verfahren überzuleiten.
Auf einmal hatten wir es nicht nur mit Neonazis und der Polizei zu tun, sondern mit einer Bevölkerung, die in Teilen mit den rassistischen TäterInnen sympathisierte und in großen Teilen mit einer Großen Koalition, die eine unblutige und effektive Lösung des ›Asylproblems‹ versprach.
Rassismus und Nationalismus sind eben nicht nur Herrschaftsideologien, die ganz unten ›falsches Bewusstsein‹ produzieren. Sie konstituieren zugleich ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das ›die da unten‹ zu Subjekten einer privilegierten Teilhabe macht.
Selten war unser Widerstand so hilflos, selten waren unsere Reaktionen so symbolisch und wirkungslos. Wir konnten die Angriffe auf Flüchtlingsheime nicht verhindern und die meisten Gegendemonstrationen, Tage oder Wochen später, hatten etwas Gespenstiges und lächerlich Drohendes. Was wir Mitte der 80er Jahre beklagten, im Scheinwerferlicht großer (und gelungener) Kampagnen, unsere Kraft und unsere Verankerung zu überschätzen, auf Demonstrationen, aber nicht im Alltag (als Alternative) präsent zu sein, fiel uns schmerzhaft auf die Füße.
Die geradezu täglichen Angriffe auf Flüchtlinge, Migrantinnen, Behinderte, Langhaarige und alles was nicht ›deutsch‹ genug aussieht, die offene Sympathie der Schaulustigen und die Gleichgültigkeit derer, die zuhause blieben, ließ bestenfalls punktuelles Handeln zu. Dazu zählten auch die Versuche der ›Wohlfahrtsausschüsse‹, mit einem Tross aus antirassistischen Gruppen und Antifas aus dem Westen im ›Osten‹ zu intervenieren.
Es gibt sicherlich viele Fragen, die gerade in dieser Zeit aufgeworfen wurden, Ratlosigkeit und Zerwürfnisse zurückließen. Die wichtigsten Fragen bleiben: Warum haben die meisten von uns mit Flüchtlingen und MigrantInnen erst etwas zu tun bekommen, als sie Opfer rassistischer Angriffe wurden? Warum hatten, warum haben wir so wenig mit ihnen zu tun, als Handelnde, als Subjekte, die in den allermeisten Fällen nichts mit den Projektionen von einem ortsungebundenen, normadierenden Leben zu tun haben.
Der Tag X[3]
Der legale Verfassungsbruch 1993
Die Fixierung auf spektakuläre Opfer rassistischer Gewalt wiederholte sich in der Mobilisierung zur Bundestagsblockade anlässlich der parlamentarischen Absegnung. In Rostock-Lichtenhagen waren es noch 10.000, die sich an der Gegendemonstration beteiligten, am Tag der Abstimmung in Bonn waren es bestenfalls 3 -4.000. Und selbst das war für uns eher überraschend, als enttäuschend. Denn in den Monaten davor gingen wir zähneknirschend von 1.000-1.500 TeilnehmerInnen unseres Blockadekonzeptes aus. Diese Zahl war Ausgangspunkt unserer Überlegungen, an vier Stellen den Zugang zum Bundestag zu blockieren, in der Hoffnung, zumindest die Reibungslosigkeit dieser Abstimmungsmaschinerie zu stören. Und tatsächlich gelang es uns, den meisten Parlamentariern für diesen Tag das Gefühl mitzugeben, wie es ist, wenn der ›Landweg‹ ausgeschlossen ist. Die Mehrheit der Abgeordneten musste sich mit dem Schiffsweg begnügen und empfand diesen Schleichweg doch tatsächlich als demütigend und unwürdig. Sie hätten sich stattdessen einen harten Polizeieinsatz für ihr so selbstverständlich empfundenes Recht auf Freizügigkeit gewünscht. Doch dieser blieb aus kosmetischen Gründen aus. Die ›Festung Bonn‹, in die sich die Hauptstadt Tage zuvor verwandet hatte, sollte nicht noch durch zusätzliche Bilder prügelnder Polizisten unterstrichen werden.
An diesem Tag wurde nicht nur ein bereits reichlich zerfleddertes Grundrecht abgeschafft, an diesem Tag hat sich zugleich die kritische, liberale Öffentlichkeit verabschiedet. Es mögen vielleicht 1.000 – 1.500 TeilnehmerInnen einer Kundgebung (im Anschluss an die Blockade) gewesen sein, die diesen Aufrufen folgten.
Dementsprechend nüchtern fiel unser Redebeitrag auf dieser Bündnis-Kundgebung aus:
»Kommen wir einer trügerischen Übereinstimmung zuvor. Wir protestieren hier zwar von SPD-Oppositionellen bishin zu Autonomen, also von Verfassungspatrioten bishin zu Verfassungsfeinden gegen die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Doch bereits knapp dahinter tun sich Welten auf. Seien wir ehrlich: Die größte Gemeinsamkeit besteht in der Schwäche, ohne den jeweils anderen nicht auskommen zu können …«
Dieser Tag machte noch einmal deutlich, dass die liberale Öffentlichkeit, die sich über Jahrzehnte als Vermittler zwischen Staat und System-Opposition begriff, endgültig weggebrochen war. Auch wenn wir auf deren Integrationsfunktion liebend gerne verzichteten, so waren wir doch – ab und an – über deren Schutzfunktion dankbar. Diese wird es – für uns jedenfalls – nicht mehr geben.
Die Frage, ob wir Grundrechte, verstanden als Schutzrechte gegen den Staat, verteidigen müssen, wird uns also weiter verfolgen – wenn wir tatsächlich noch die Bedingungen für zukünftige Kämpfe im Augen behalten wollen.
Wolf Wetzel 2008
Eine leicht geänderte Fassung findet sich in: ak 529 , Thema: ›Entsetzen und kaum aushaltbare Ohnmacht. Asyldebatte, rassistische Pogrome und die radikale Linke‹
Quellen:
[1] Doitschstunde, wolfwetzel.wordpress.com
[2] Eine sehr genaue Analyse dieses Pogromes: ›Ein ganz gewöhnlicher Fahrplan Richtung Pogrom‹, wolfwetzel.wordpress.com
[3] Siehe auch die Nachbetrachtung: Ein Tag in Bonn – Nachfragen, aus: Lichterketten und andere Irrlichter, autonome L.U.P.U.S.-Gruppe, Edition ID-Archiv, Berlin 1994, wolfwetzel.wordpress.com